C. Marx u.a. (Hrsg.): Gewinner und Verlierer nach dem Boom

Cover
Titel
Gewinner und Verlierer nach dem Boom. Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte


Herausgeber
Marx, Christian; Reitmayer, Morten
Reihe
Nach dem Boom
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Dietrich, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg Universität Mainz

Das Sammelwerk „Gewinner und Verlierer nach dem Boom“ ist als mittlerweile neunter Band der bei Vandenhoeck & Ruprecht verlegten Reihe „Nach dem Boom“ erschienen. Schon diese Traditionsbildung belegt die Erfolgsgeschichte des von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael im Jahr 2008 veröffentlichten Forschungsprogramms, welches Hans Günter Hockerts schon ein Jahr nach seinem Bekanntwerden als „großen Wurf“ in einem „schmalen Band“ bezeichnet hat.1

Zwölf Jahre nach der ersten Auflage der prominenten Publikation erscheint es dem Herausgeberduo Christian Marx und Morten Reitmayer sinnvoll, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Neben ihnen tragen Lutz Raphael und Angehörige einer „zweiten Gruppe“ (S. 11) der „Nach-dem-Boom“-Forschung, etwa Arndt Neumann, zu diesem Zwischenfazit in Form des zu rezensierenden Buches bei. Sie erhalten von weiteren Autorinnen und Autoren Unterstützung, deren Fragestellungen sich mit dem leitenden Erkenntnisinteresse der „Nach-dem-Boom“-Forschung assoziieren lassen.

Der Band interessiert sich für Gewinner und Verlierer. Diese Fragestellung dränge sich – so Reitmayer – der Zeitgeschichtsschreibung auf, da zuvor schon Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaftler „teilweise ganz ausdrücklich“ (S. 8) mit diesem Bild gearbeitet hätten und Historikerinnen und Historiker in Großbritannien sowie Italien – anders als in Frankreich – dieser Idee gefolgt seien. Vor allem die „Arbeiterklassen“, die Massengewerkschaften und die Mitte-Links-Parteien seien der Verliererseite zuzurechnen. „Zu den Gewinnern der Epoche zählten dagegen weite Teile der Mittelklassen [...].“ (S. 23) Diese die sozialen Realitäten als „Klassen“ zuspitzende dichotomische Erzählmatrix kann einen bilanzierenden Blick auf die 1970er-Jahre schärfen, erschwert aber deren differenzierende Betrachtung. Einsichtig weist Reitmayer daher darauf hin, dass „schwarz-weiß-Zeichnungen“ und „Nullsummen-Annahmen“ (S. 11, 13, 63) der historiographischen Falsifizierung bzw. Verifizierung des Epochenbildes nicht gerecht werden. Zwar sind die vorgenannten Meta-Metaphern ähnlich erklärungsbedürftig wie der verwendete Klassenbegriff, aber fest steht, dass bereits am Anfang der Publikation ein erster Vorzug der „Nach-dem-Boom“-Forschung bilanzierend deutlich wird, nämlich, „Dekadengrenzen beherzt zu überschreiten“ (S. 13), und eine „Scharnierzeit“ (S. 55, 141) zu profilieren.

Zweitens macht die Einleitung klar, dass die Leitfrage der „Nach-dem-Boom“-Forschung nach dem krisenbeschleunigten Strukturwandel originär wirtschaftshistorisch ist: Märkte, deren Selbstregulierung und (staatliche) Eingriffe spielen gleichermaßen als Erklärungen und Modelle eine wesentliche Rolle, Kommodifizierungen dienen als erkenntnistragende Denkfiguren (S. 13, 19). Die von Eva Maria Klos, Marx und Neumann betonte Flexibilisierung (S. 55f., 117, 160) hätte in der „Nach-dem-Boom“-Forschung (ebenso wie in Reitmayers Einleitung) durchaus eine noch größere Rolle spielen können, auch in Hinblick auf die Fragestellung, ob in der Zeit nach dem Boom nicht Gewinner immer auch Verlierer gewesen sind und umgekehrt. Drittens orientiert die Einleitung den Leser und die Leserin darüber, dass eine räumliche Maßstabskalierung erkenntnisbildend für die „Nach-dem-Boom“-Forschung ist, wobei eine vergleichend-westeuropäische Perspektive (S. 15) dominiert. Viertens ist die Zeit nach dem Boom aus Sicht des Rezensenten keine „neue Belle Époque“ gewesen (S. 25).2 Dieser Epochenbezug ist diskutierbar, wirkt aber wie eine vorläufige und vorschnelle Analogiebildung ohne klares komparatives Setting. Zusammengefasst legt der einleitende Aufsatz die methodischen und metaphorischen Herausforderungen dar, die der Band an seine Autorinnen und Autoren stellt. Wie meistern sie diese?

Als Musterbeispiel für die ergiebige wirtschaftshistorische Schwerpunktsetzung der „Nach-dem-Boom“-Forschung und als methodisch und empirisch präzise sowie metaphorisch nüchtern kann der Beitrag von Christian Marx gelten. Der Mitherausgeber arbeitet „leise und inkrementelle Wandlungsprozesse“ in der Chemieindustrie am Beispiel der Hoechst AG, dem Akzo-Konzern und dem französischen Chemiunternehmen Rhône-Poulenc heraus (S. 55).

Als kritischer Rezensent der leitenden Fragestellung ebenso wie als Referent seiner Pionierstudie „Jenseits von Kohle und Stahl“ äußert sich Lutz Raphael über „Gewinner und Verlierer in den Transformationen industrieller Arbeitswelten“.3 Er überlässt es „begriffs- und ideengeschichtlichen Spezialisten darzustellen, wie es dazu kam, dass dieses aus der Sportwelt bekannte Modell alltagssprachliche Tauglichkeit zurückerlangte, obwohl doch die Grundvoraussetzungen: Eindeutigkeit der Regeln, welche festlegen, wer überhaupt gewonnen und wer verloren hat, aber auch die mitlaufende Grundannahme bei den beobachteten Prozesse handele [es, T.D.] sich um Nullsummenspiele, keineswegs gegeben waren oder heute sind“ (S. 62). Die Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern würde daher nur einen sozialhistorischen Sinn ergeben, „wenn sie auch auf die Ebene der Haushalte und der Berufsbiografien der unterschiedlichen Alterskohorten von Industriebeschäftigten heruntergebrochen wird“. Raphael kommt zu dem Schluss, dass Befunde auf anderen als Mikroebenen „Gemengelagen von Gewinnen und Verlusten“ belegen (S. 79).

Die Beiträge von Marc Bonaldo über wirtschaftliche Anpassungsprozesse im Raum Stuttgart und von Marc Meyer über die sozialdemokratische politische Mobilisierung in Frankfurt am Main versprechen vor allem dann einen großen Erkenntnismehrwert, wenn man sie mit einer komparativen Brille liest. Mit klarer Vorstellung von Raum und Resilienz stellt Bonaldo pointiert den regionalbewussten Eigensinn der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaftsvertreter sowie des Managements bei Daimler heraus, um die ökonomischen Herausforderungen seit den 1970er-Jahren zu meistern. Genau an dieser selbstbezogenen Widerstandskraft fehlte es dagegen der Frankfurter SPD um Martin Wentz, was Meyer in seinem Aufsatz deutlich macht, indem er eine Posthistorie des „sozialdemokratischen Jahrzehnts“ erzählt, die von einem „Glaubwürdigkeitsverlust“ und damit einem lokalen Machtverlust der SPD gekennzeichnet war (S. 205).

Arndt Neumanns Beitrag zur „Containerwelle“ ist durch seine dreiphasige Geschichte der Containerisierung des Hamburger Hafens ein gutes Beispiel für die Pluritemporalität, die die „Nach-dem-Boom“-Forschung charakterisiert. Die aus dem Befund einer voranschreitenden Automatisierung gezogenen Schlussfolgerungen auf die Gewinner und Verlierer unter den Hafenarbeitern sind plausibel. Nicht ihre Qualifikation, sondern „ihre zentrale Stellung im Umschlagprozess“ (S. 118) sei entscheidend gewesen.

Flexible Zeitlichkeiten einerseits, der geschichtswissenschaftliche Wettstreit um das markanteste Zäsurjahr der 1970er-Jahre andererseits charakterisierte in den letzten Jahren die gegenwartsnahe Zeitgeschichtsschreibung. Als kleinster gemeinsamer Nenner der Beiträge von Tobias Vetterle und Timo Kupitz kann die Bedeutung des Jahres 1978 betont werden. Rund drei Monate nachdem am 4. Mai die Gewalterfahrung von Migranten aus Bangladesch in London ihren Höhepunkt fand, ließ die luxemburgischen Regierung das Naturschutzgesetz aus dem Jahr 1965 überarbeiten. Ansonsten küren die beiden Beiträge unterschiedlichste Sieger und Verlierer der jeweils untersuchten, höchst differenten Prozesse. Vetterle weist nach, dass die luxemburgische Umweltbewegung sich als „umweltpolitische (Gegen-)Expertin" etablierte. Kupitz erzählt in seinem instruktiven Aufsatz ein „Erfolgsnarrativ“ bengalischer Migranten und begründet dies mit dem Hinweis auf ein wachsendes Vertrauen zwischen einzelnen Politikern und den Einwanderern aus Bangladesch. Die sichtbare Mobilisierung durch lokale liberale und Labour-Parteiengruppen sowie durch „direkte politische Aktionen“ der Migrantinnen und Migranten wird hier als erfolgreicher Kampf gegen Rassismus gedeutet, der, wie Kupitz durchaus konzediert, „selbstverständlich Einschränkungen unterworfen“ gewesen sei (S. 200). Die beiden vorgenannten Beiträge demonstrieren zwar die reizvolle thematische Bandbreite der „Nach-dem-Boom“-Forschung, können dem Sammelband selbst aber den Anfangsverdacht nicht ersparen, inhaltlich und methodisch recht disparat zu sein. Dies gilt noch mehr, bedenkt man, dass Stefanie Middendorf explizit darauf hinweist, dass die „Suche nach einer Antwort auf die Frage nach Gewinnern und Verlierern der Kulturpolitik in Frankreich eine erst noch zu lösende methodische Herausforderung darstellt“ (S. 142). Verallgemeinert man dieses Fazit, wird deutlich, dass der Sammelband einen vorläufigen Zwischenstand der innovativen „Nach-dem-Boom“-Forschung aufzeigt, welche sich jetzt stärker einer methodischen Reflexion unterziehen, bildhafte Denkfiguren präzisieren und verstärkt kulturelle Kommodifizierungen in den Blick nehmen könnte.

Anmerkungen:
1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3., ergänzte Aufl. Göttingen 2012 (1. Aufl. 2008), dort S. 139f., Anm. 5, 7, 10. Die Auseinandersetzung mit den seit 2009 erschienenen Rezensionen, u.a. von Hans Günter Hockerts, https://www.sehepunkte.de/2009/05/15019.html (11.07.2022). Die seit 2016 erscheinende Reihe „Nach dem Boom“ besteht bislang aus sechs Monografien sowie zwei Sammelbänden.
2 Morten Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue Belle Époque? Versuch einer vorläufigen Synthese, in: ders. / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom (Zeitgeschichte im Gespräch 14), München 2014, S. 13–22.
3 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, 1. und 2. Aufl. Berlin 2019.